
Kurzgeschichten
Unsichtbar
Die Insel Marmoriam, von ihren Bewohnern oft einfach nur Kristallinsel genannt, wurde von zwei menschlichen Stämmen bevölkert. Schon über viele Jahrhunderte hinweg lebten Marianer und Morianer friedlich miteinander. Ihre Urahnen hatten die Insel einst in zwei gleich große Hälften aufgeteilt, von denen jeder Stamm eine zur freien Entwicklung und Gestaltung bekam.
Die Insel war sehr fruchtbar und bot den Menschen alles, was sie zum Leben brauchten, in Hülle und Fülle. Verantwortlich dafür war eine Besonderheit der Insel, die ihr auch ihren umgangssprachlichen Namen unter den Bewohnern einbrachte. Genau im Zentrum der Insel, auf der Grenze zwischen den zwei verschieden Territorien, befand sich eine riesige Kristallskulptur. Ihre kunstvollen Facetten waren so geschliffen, dass sie das Sonnenlicht einfingen und über die gesamte Insel strahlen ließen. So gediehen Pflanzen auf Marmoriam so schnell wie nirgendwo sonst. Die Kristallskulptur war den Bewohnern atemberaubende Sehenswürdigkeit und mysteriöses Rätsel zugleich. Denn sie war schon seit den frühesten Überlieferungen von Menschen auf der Insel dort gewesen. Was jedoch noch viel rätselhafter war: Die Skulptur hatte keine Verbindung zum Boden. Sie schwebte.
Die Wirkung, die der Kristall auf das Wachstum der Pflanzen auf der Insel hatte, ermöglichte den Bewohnern ein Leben im Überfluss. Doch mit der Zeit wurden sie immer verschwenderischer. So geschah es, dass nach etlichen Generationen von Marianern und Morianern, die Ressourcen nicht mehr schnell genug regenerieren konnten um ihren Lebenstil dauerhaft zu ermöglichen. Doch auf beiden Seiten fehlte die Bereitschaft für Verzicht. Stattdessen begann jeder Stamm für sich Pläne zu schmieden. Der Frieden zwischen Marianern und Morianern war vorüber. Zunächst begannen sie einander zu bestehlen. Doch schon bald entwickelte sich ein größerer Plan. So waren es die Marianer die eines Nachts die Kristallskulptur aufsuchten. Sie banden ein riesiges Seil um das kunstvolle Objekt und begannen, es auf ihre Seite der Insel zu ziehen. Sie wollten dadurch stärker vom Effekt des Kristalls profitieren und damit die Ressourcenknappheit beenden. Die gewaltige Maschine, die sie für die Mission gebaut hatten, ächzte, während sie sich Meter um Meter fortbewegte. Der schwebende Kristall war schwer, aber es gelang, ihn zu bewegen. Sämtliche Marianer waren auf den Beinen, um die Zugmaschine mit Brennstoff zu versorgen. Je weiter sie den Kristall bewegt hatten, desto mühseliger wurde es. Die Maschine brauchte mehr Brennstoff und wurde langsamer. Die Marianer trugen ihre ganzen gesammelten Vorräte heran, um die Skulptur bis in die Mitte ihres Territoriums zu ziehen. Erst bei Sonnenaufgang hatten sie es geschafft und erlebten, dass ihre Ländereien erstrahlten wie nie zuvor.
Die Marianer jubelten während die Maschine langsam verstummte. Und dann, als das Feuer in ihr fast erloschen war, geschah etwas Grauenvolles. Ohne den Zug der Maschine brach sich eine unsichtbare Kraft bahn, die den gewaltigen Kristall zurück zog. Es war diese Kraft, die das Wegziehen des Kristalls zunehmend erschwert hatte. Der Kristall beschleunigte in die entgegensetze Richtung, auf seinen Ausgangspunkt zu, und riss die Maschine mit sich. Die Marianer waren geschockt. Sie rannten dem Kristall, der immer schneller wurde, hinterher. Selbst als der Kristall seinen Ausgangspunkt erreichte stoppte er nicht, sondern bewegte sich nun auf das Territorium der Morianer. Erst dort wurde er wieder langsamer, bis er zum Stillstand kam, woraufhin er sich wieder in die andere Richtung auf den Weg machte. Morianer und Marianer vermischten sich zu einer panischen Menge. Einmal in Bewegung versetzt, blieb der Kristall in Bewegung. Fortan befand sich die Skulptur in ständigem Hin und Her und stürzte Marmoriam in große Not. Die Pflanzen konnten mit den wechselnden Lichtverhältnissen nicht umgehen und gediehen nur noch spärlich. Hunger und Armut breitete sich aus. Die Not wiegelte die Menschen gegeneinander auf und viele düstere Jahre gingen ins Land.
Eine neue Generation wuchs heran. Eine Generation, die Marmoriam in diesem Zustand kennengelernt hatte. Nicht verblendet vom einstigen Überfluss waren diese Menschen endlich in der Lage zu erkennen und zu verstehen. Sie erkannten, dass die Bewegung des Kristalls mit der Zeit ganz langsam nachließ. Sie verstanden, worum es sich bei der Kristallskulptur von Marmoriam handelte. Es war ein Pendel – ein Pendel, aufgehängt an einer unsichtbaren Kette. Doch für jene, die es verstanden hatten, war sie nicht mehr unsichtbar. Sie sahen die Kette, die oben an der Kristallskulptur befestigt war und bis in den Himmel reichte wo sie in den Wolken verschwand.
Anhand des Pendels verstanden die Marmorianer, wie sie sich nun vereinigt nannten, dass ihre Lebensgrundlage auf einem Gleichgewichts beruhte, das es zu erhalten galt. Sie durften nur so viel nutzen, wie die Insel wieder zur Verfügung stellte. Doch anders als ihre Vorfahren, hatten sie wertzuschätzen gelernt, was die Insel ihnen bot. Das Pendel musste einmal in Bewegung versetzt worden sein, um zu begreifen, dass es sich immer schon am bestmöglichen Punkt befunden hatte. So ließen die Marmorianer das Pendel zur Ruhe kommen und der Kristall wurde niemals wieder berührt.
