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Kurzgeschichten

Schlüssel und Türen

Das Nebel-Schloss war ein sagenumwobener Ort. Man erzählte sich, dass in seinem Inneren ein Schatz verborgen lag, größer als jede Vorstellungskraft. Eines Tages erschallte eine Botschaft über die Lande: „Das Nebel-Schloss hat seine Pforten geöffnet. Die Suche nach dem Nebel-Schatz kann beginnen.“ Von überall strömten die Menschen herbei. Am riesigen steinernen Tor des Schlosses trafen sie auf eine gebückte Gestalt, die ihnen den Rücken zudrehte und ein Schild mit der Aufschrift „Einzeln vortreten!“. Nacheinander traten die Menschen an die Gestalt heran. Sie drehte sich um. Es war eine uralte Frau. Ihr tief zerfurchtes Gesicht wurde halb in Schatten getaucht durch die große Kapuze ihrer braunen Kutte. Mit zitternder Stimme sprach sie: „Ich bin Rutan, die Schlosswächterin.“ Sie musterte ihr Gegenüber eindringlich. Dann griff sie in eine Tasche ihrer Kutte, zog einen gewaltigen Schlüsselbund heraus und überreichte ihn mit den Worten: „Diese Schlüssel öffnen dir die Türen zum Schatz. Viel Glück!“ Dann drehte Rutan sich wieder um, bis die nächste Person heran trat.

Hinter dem Tor fanden sich die Menschen in einem schier unendlichen Wirrwarr aus Gängen und Treppen wieder. Türen säumten die Wände entlang der Gänge. Schnell wurde den Suchenden klar, dass sie keinen Schlüsselbund bekommen hatten, mit dem sie alle Türen öffnen konnten. Im Gegenteil. Viele dachten bald, dass sie überhaupt keinen passenden Schlüssel hatten. Sie begannen sich gegenseitig zu beobachten, während sie weiter Tür für Tür probierten. Schließlich fand jemand eine Tür die sich öffnen ließ. Jene, die es gesehen hatten, warteten ab bis die glückliche Person dahinter verschwunden war. Dann liefen sie zu der Tür, um ihr zur folgen. Dort mussten sie jedoch feststellen, dass sie selbst nicht den passenden Schlüssel hatten. Dies ereignete sich immer wieder und auch an unterschiedlichen Türen. Nach und nach hatten immer mehr der Suchenden Erfolg und die Zurückgebliebenen wurden immer ungeduldiger. Einigen gelang es schließlich durch eine zuvor geöffnete Tür zu schlüpfen, bevor diese wieder ins Schloss fiel. Was sich dahinter offenbarte unterschied sich kaum von dem bisher Gesehenen. Gänge, Treppen, Türen. Doch alles sah ein wenig edler aus. Ermutigt von diesem Anblick, welcher suggerierte, dass der Schatz nun etwas näher war, probierten sie sich an den nächsten Türen. Und tatsächlich fanden jene, die den Bereich nicht mit einem eigenen Schlüssel erreicht hatten, nun oft schnell eine Tür, die sie selbst aufschließen konnten. Dahinter jedoch, fanden sie sich erneut im ursprünglichen Bereich wieder. So irrten die Suchenden umher und folgten sich gegenseitig durch die Türen. Doch wann immer sie einen Bereich durch eine Tür betreten hatten, die jemand anderes geöffnet hatte, führten die Türen, die sie später selbst öffnen konnten, sie nur wieder zum Ausgangspunkt zurück.

Die meisten wurden mit jedem Mal, da sie sich erneut am Anfang wiederfanden, verbissener. Manche jedoch wurden nachdenklich. Gab es womöglich nicht den einen Weg zum Schatz? Konnte es sein, dass zu jedem Schlüsselbund ein eigener Weg gehörte? Sie machten sich erneut auf die Suche. Doch dieses Mal nutzen sie keine Türen, die jemand anderes aufgeschlossen hatte. Sie suchten geduldig, bis sie eine Tür fanden, die sie selbst öffnen konnten. Und auch wenn es manchmal ein wenig länger dauerte, fanden sie immer eine passende Tür zu einem ihrer Schlüssel. So gingen sie ihren Weg, der sie nun nicht wieder zurückführte. Hinter jeder Tür wartete ein Bereich, der schöner und einladender war, als der zuvor. Das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, durchströmte sie und gab ihnen die nötige Kraft und das Durchhaltevermögen, wenn sie mal länger suchen mussten. So öffneten sie Tür um Tür, bis sie sich schließlich mit lediglich einem einzigen unbenutzten Schlüssel vor einer kunstvoll verzierten Luke mit der Aufschrift „Schatzkammer“ befanden. Sie blickten sich um. Alle hatten sie die Schatzkammer als erstes und einziges gefunden. Mit pochendem Herzen drehten sie den Schlüssel, schoben die schwere Luke beiseite und betraten die Kammer.

Es war ein lang gezogener Raum und er war vollkommen leer. Doch an der weit entfernten Wand wartete jemand. Sie blickten sich um. Sonst war niemand da. Langsam schritten sie vor und die Gestalt in der Ferne setzte sich ebenfalls in Bewegung. Die Schritte der Gestalt waren kraftvoll und voller Stolz und Selbstbewusstsein. Sie wirkte vollkommen im Reinen mit sich und der Welt. Schon aus einiger Entfernung war ein strahlendes Lächeln in ihrem Gesicht zu sehen. Die Gäste waren nun nicht mehr weit entfernt und die Person, die dort auf sie zuschritt, kam ihnen nun immer bekannter vor. Wenige Schritte weiter registrierten sie ein strahlendes Lächeln auf ihrem eigenen Gesicht und realisierten schließlich, dass sie die ganze Zeit schon nur sich selbst gesehen hatten. Sie standen vor einem Spiegel. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben erkannten sie darin ihr wahres Ich, vollkommen und stolz. Sie spürten eine nie gekannte, grenzenlose Zufriedenheit. Und in diesem Moment konnten alle Menschen, die die Schatzkammer gefunden hatten, auch einander sehen. Sie sahen die Zufriedenheit in den Gesichtern der Anderen und spürten, wie ihre eigene dadurch noch weiter wuchs.

So begriffen die Glücklichen, dass sie nie Konkurrenten gewesen waren, da der Schatz die ganze Zeit in ihnen selbst gesteckt hatte. Schon als sie vor die Pforte des Schlosses getreten waren, war er da. Doch nur indem sie ihren individuellen Weg durch das Nebel-Schloss fanden, konnten sie ihn in sich selbst entdecken. Und nur ihr eigener, einzigartiger Schlüsselbund, den sie von der Schlosswächterin Rutan erhalten hatten, konnte ihnen diesen Weg zeigen.

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