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Kurzgeschichten

Der Wald

Dies ist die Geschichte des Waldhüters Fyanell. Seit jeher und bis in alle Ewigkeit liegt seine Lebensaufgabe im Schutz und der Pflege des Madurza-Waldes. Eine ehrenvolle Aufgabe, denn die ihm anvertrauten Bäume, sind keine normalen Bäume. Es sind Lebensbäume der Menschen. Für jeden Menschen beherbergt der Madurza-Wald einen eigenen Baum – ein gewachsenes Symbol seines Lebens. Da ist der Stamm, die Basis, dessen Stärke bestimmt ist durch das Bewusstsein des Menschen über sich selbst – das Selbstwertgefühl und die Klarheit der Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ Ausgehend von diesem Stamm erstrecken sich Äste für verschiedene Elemente des Lebens, Beziehungen zu anderen Menschen, Tätigkeiten und alles, womit dieser Mensch seine Zeit verlebt. So wie der Lebensweg des Menschen, verzweigen sich auch die Äste und schließlich tragen sie Früchte, prachtvolle bunte Früchte – die Früchte der Zufriedenheit.

Es könnte alles perfekt sein, doch Fyanell machte sich Sorgen. Viele der Bäume wuchsen nicht so, wie es sein sollte. Oft blieben die Stämme schmal und schwach. Auf dem Weg ihrer Selbstfindung ließen sich viele Menschen zu leicht ablenken. Durch die Konfrontation mit gesellschaftlichem Druck, und den verschiedensten, oft widersprüchlichen, Bewertungen, von richtig und falsch, gut und schlecht, wertvoll und wertlos, irrten sie durch ihr Leben. Ohne eine eigene starke Basis, ein gefestigtes Werte-System, mussten sie diesen fremden Bewertungen vertrauen. Sie begaben sich auf Wege, an deren Ziel die fremden Bewertungen Zufriedenheit und Glück versprachen. Oft investierten sie Unmengen an Zeit und Energie und opferten sich auf, um dieses Ziel zu erreichen. Und entsprechend flossen auch die Energie und die Nährstoffe in das Wachstum dieses einen Astes ihres Lebensbaums. Womöglich so sehr, dass andere Zweige nicht mehr versorgt wurden und verkümmerten. Doch zumindest dieser eine Zweig wuchs und gedieh. Und schließlich war das Ziel erreicht. Der Ast trug Früchte, der Mensch genoss einen Moment des Glücks und dann...

...ein lautes Krachen und der Ast stürzte zu Boden. Mit dem zusätzlichen Gewicht der Früchte, konnte der schmale Stamm den Ast nicht halten. Es blieb nur ein Moment des Glücks, bereits vergangen, ehe der Mensch ihn richtig fühlen konnte. Und so begann es von vorne. Ein neuer Weg, ein neues Ziel. Ein ewiger Kreislauf. Doch der Stamm blieb immer schmal.

Fyanell sammelte die hinabgestürzten Äste ein. Sobald sie nicht mehr mit dem Baum verbunden waren, vertrockneten die Früchte der Zufriedenheit schnell und wurden schrumpelig und grau. Am Rande des Waldes warf Fyanell die Äste in eine große Grube bis diese randvoll war. Dann entzündete er die Äste. Es war ihm der liebste Teil seiner Arbeit. Er setzte sich dann an einen der äußersten Bäume des Waldes und blickte einfach nur auf die lodernden Flammen und war glücklich. Und als nach Stunden das Feuer niederbrannte, war er meist schon eingeschlafen. Am nächsten Morgen holte Fyanell die erkaltete Asche aus der Grube. Er nahm sie mit in den Wald und verstreute sie zwischen den Bäumen. So gab Fyanell dem Waldboden die Nährstoffe der hinabgestürzten Äste zurück. Immer in der Hoffnung, sie würden dieses Mal einem nachhaltigeren Wachstum der Bäume dienen. Denn es gab eine ernste Bedrohung, der nur kräftige Bäume standhalten konnten.

Jede Krise, der sich die Menschen gegenüber sahen, löste einen Sturm aus, der über den Madurza-Wald hinwegfegte. Fyanell beobachtete besorgt, dass diese Stürme immer häufiger und auch heftiger wurden. Bäume, die nicht stabil genug gewachsen waren, verloren Äste oft bevor sie überhaupt Früchte trugen. Die Energie, die hineingesteckt worden war, blieb ohne Ertrag. Den Bäumen, die einen dicken Stamm besaßen, der die Äste stark und sicher hielt, konnten die Stürme wenig anhaben. Diese Menschen waren nicht so sehr von den Glücksmomenten abhängig. Sie hatten ein hohes Bewusstsein, wer sie sind und was sie nachhaltig zufrieden macht und lebten danach. So trugen die stabilen Äste ihres Lebensbaums permanent Früchte. Und selbst wenn mal ein Ast einem Sturm zum Opfer fiel, so konnten sie dies gut verkraften.

Fyanell wusste, dass die starken Bäume mehr waren, als die Symbole einzelner, zufriedener Menschen. Durch ihre Größe boten sie auch Schutz für die weniger starken Bäume rundum, da sie sie gegen die Stürme abschirmten. Sie verschafften ihnen Zeit, um irgendwann ebenfalls so stark werden zu können. Und so streifte Fyanell Tag für Tag durch seinen Wald, betrachtete die Entwicklung seiner Schätzchen und freute sich über jeden Menschen, der den Kreislauf durchbrechen konnte. Der erkannte, dass er auf seiner ewigen Jagd nach Momenten des Glücks das Glücklichsein vergisst, innehielt und begann seine Energie in die Suche zu stecken, was es dazu brauchte. Fyanell glaubte fest daran, dass eines Tages kein Sturm mehr stark genug sein würde, um dem Madurza-Wald zu schaden.

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