
Kurzgeschichten
Das Blumenmädchen
Indira war weit über die Grenzen ihres kleinen Dorfes hinaus bekannt. Denn sie kümmerte sich schon fast ihr gesamtes Leben um die Pflanzen des sagenhaften Uniquedo-Gartens – der größten Attraktion weit und breit. Und obwohl Indira inzwischen eine alte Frau war, wurde sie von allen nur „Das Blumenmädchen“ genannt. Das Besondere am Uniquedo-Garten war, dass jede Pflanze, die sein Boden hervorbrachte, einzigartig und noch nie dagewesen war.
Indira liebte ihre Arbeit über alles, denn jede Pflanze in all den Jahren, spielte mit ihrer Faszination für die unendliche Vielfalt der Schönheit, die Farben und Formen darstellen konnten. So kümmerte sich Indira voller Hingabe um ihre Schätzchen. Die Arbeit brachte jedoch auch eine gewaltige Herausforderung mit sich. Denn so individuell und verschieden wie die Pflanzen aussahen, so individuell und unterschiedlich waren auch ihre Anforderungen. Manche brauchten viel Licht, andere gediehen eher im Schatten. Manche brauchten viel Wasser, bei anderen musste man sparsam damit sein. Alle Erfahrung, die Indira hatte, war bei jeder neuen Pflanze unbedeutend. Indira musste jede Pflanze aufs Neue verstehen lernen. So war es unvermeidlich, dass sie Fehler machte, denn sie konnte nur aus den Reaktionen der Pflanzen lernen. Jeder Fehler hinterließ eine Spur, einen Makel, eine Narbe, die die Pflanze oftmals für immer behielt.
Mit ihrer Mutter war Indira als Kind häufig durch den Uniquedo-Garten gegangen, weil er auf dem Weg zu ihren Großeltern lag. Zu der Zeit hatte sich niemand um den Garten gekümmert und die Pflanzen waren verwelkt und verdorrt. Ihre Mutter hatte immer darüber geschimpft, wie schrecklich der Garten aussehe und dass man ihn doch endlich plattmachen solle, um die Fläche sinnvoll zu nutzen. Das hatte Indira immer traurig gemacht, weil sie Pflanzen schon damals mochte. So hatte sie sich geschworen, ihrer Mutter zu beweisen, dass der Garten schön aussehen kann und begonnen die Pflanzen zu pflegen. Doch ihre Mutter hielt es immer für Zeitverschwendung. Über viele Jahre hatte Indira sehr gehadert mit den Fehlern, die sie bei den Pflanzen machte. Hatte sich oft die Frage gestellt, wie die Pflanzen wohl aussehen könnten, wenn sie sie von Beginn an richtig gepflegt hätte. Und ob ihre Mutter ihre Arbeit dann wertschätzen würde. Schließlich war ihre Mutter krank geworden und hatte ihr Gedächtnis verloren, bis sie eines Tages selbst ihre Tochter nicht mehr erkannte. Doch Indira hatte sich weiter um sie gekümmert. Als deutlich geworden war, dass ihrer Mutter nicht mehr viel Zeit blieb, hatte Indira sie ein letztes Mal in den Uniquedo-Garten gebracht. Und als ihre Mutter damals all die bunten Pflanzen erblickte, vertrieb ein strahlendes Lächeln all den Schmerz in ihrem Gesicht.
Es war der Moment, in dem Indira verstand, dass sie selbst eine Narbe in sich trug. Die Ablehnung ihrer Mutter für ihre Leidenschaft hatte diese hervorgebracht. Doch als sie dann das Lächeln ihrer Mutter beim Anblick der Pflanzen sah, begriff Indira, dass ihre Mutter ihr nie hatte weh tun wollen. Sie hatte nur nicht verstanden, was Indira brauchte. So wie Indira niemals wissen konnte, was eine neue Pflanze braucht.
So lernte Indira zu akzeptieren, dass die Fehler passieren und endlich konnte sie sich uneingeschränkt an der Pracht der Pflanzen erfreuen. Und alle, die den Uniquedo-Garten von da an besuchten, trafen dort eine alte Frau mit der unbekümmerten Freude eines Kindes. Sie trafen das Blumenmädchen.
