
Die Reise zum Ich
3. Etappe: Das Ich im Wandel der Zeit
Ich begrüße Dich ganz herzlich zur dritten Etappe der Reise zum Ich. Diese steht im Zeichen eines zentralen Aspekts meiner Idee eines zufriedeneren Lebens: Lebe im Moment!
Grundlegend geht es darum, sich weniger mit der Vergangenheit und der Zukunft auseinanderzusetzen, um mehr Aufmerksamkeit und Energie für das Hier und Jetzt, für den Moment, in dem man sich gerade befindet, zu haben. Die Idee dahinter: Nur im Hier und Jetzt haben wir Zugang zu unseren Emotionen, die uns signalisieren, was für uns gut und richtig ist. Es ist aber wie vieles, das ich auf dieser Reise präsentiere, sehr einfach in so einem Satz formuliert, aber in der erfolgreichen Umsetzung doch wesentlich schwieriger. Denn es gibt sehr gute und hilfreiche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die zu entdecken und erlernen sind. Ebenso aber auch meiner Meinung nach wenig hilfreiche, die sehr verbreitet sind. Deswegen werden wir auf dieser Etappe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nacheinander unter die Lupe nehmen und neu betrachten. Starten wir mit der Vergangenheit.
Die bedeutendste Eigenschaft der Vergangenheit: Sie lässt sich nicht verändern. Und da sie sich nicht verändern lässt, ist es das Beste, sich mit ihr anzufreunden und schätzen zu lernen, was sie alles zu bieten hat. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um das, was einem passiert ist. In der Vergangenheit jedes Menschen liegen mehr oder weniger schmerzhafte, bis hin zu massiv traumatischen Erfahrungen. Es geht darum, sich mit seinem früheren Ich anzufreunden.
Die meisten Menschen tun sich jedoch sehr schwer damit. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand. So gehen doch viele Probleme, mit denen man in der Gegenwart konfrontiert ist, auf eigene frühere Entscheidungen zurück. Und so hadern die meisten Menschen immer wieder mit sich selbst und ihren früheren Entscheidungen. Sie sehen in der Vergangenheit nur ein dummes, unreifes früheres Ich. Vielleicht geht es auch Dir so. Aber ich kann Dir eines sagen, ohne Dich und Deine Vergangenheit zu kennen: Dein früheres Ich verdient höchste Wertschätzung.
Klingt komisch? Ich erkläre Dir, warum ich es so sehe. Natürlich gibt es in der Vergangenheit jedes Menschen Entscheidungen, die zu Problemen geführt haben. Das wird für Dich gelten und das gilt auch für mich. Und wie das für mich gilt! Ich habe einige Entscheidungen getroffen, die sich rückblickend als völlig falsch erwiesen haben. Aber genau darum geht es. Sie haben sich rückblickend als falsch erwiesen. In dem Moment, wenn sie getroffen wird, ist jede Entscheidung der Versuch, ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. Und dabei wird alles einbezogen, das einem zu diesem Zeitpunkt an Information zur Verfügung steht. Mein früheres Ich, und genauso auch Deines, haben jederzeit versucht, durch ihr Handeln etwas für uns zu tun, eine bessere Situation zu schaffen oder Unglück zu vermeiden. Und wenn das nicht wie erhofft eingetreten ist, dann gibt es dafür zwei mögliche Gründe. Zum einen können äußere Faktoren dafür gesorgt haben, die zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht absehbar waren. Oder aber uns hat zum Zeitpunkt der Entscheidung einfach etwas gefehlt. Erfahrung, Wissen, Selbstkenntnis.
Dein früheres Ich hat sich jederzeit für Deine Zufriedenheit eingesetzt. Dass es dabei Fehlschläge gibt, ist niemals zu vermeiden. Aber jeder dieser Fehlschläge ist auch Teil eines gewaltigen Erfahrungsschatzes, der Dich heute stärker macht als jemals zuvor. Dein früheres Ich hat unermüdlich diesen Erfahrungsschatz für Dich gesammelt. Du kannst sehr stolz darauf sein.
Wenn es Dir nicht gelingt, diese positive Perspektive auf Dein früheres Ich zu gewinnen, so möchte ich Dir zumindest mitgeben, dass jegliche Form des Vorwurfs an sich selbst und jegliches Hadern mit den eigenen früheren Entscheidungen keinen Sinn ergibt. Völlig egal, wie berechtigt es zu sein scheint. Denn es kann nun einmal keine Veränderung bewirken und raubt lediglich Energie, die man im Hier und Jetzt gut gebrauchen könnte. Die Vergangenheit ist vorbei. Sie liegt hinter uns. Aber je nachdem, wie wir uns mit ihr auseinandersetzen, kann sie uns in der Gegenwart Energie geben oder rauben. Wir tragen sie durch den Rest unseres Lebens, deshalb lohnt es sich zu versuchen, sie zu etwas zu machen, das kein Ballast, sondern ein stetiger Antrieb ist.
Um den Kreis zu schließen, müssen wir nun noch einmal kurz auf das zurückkommen, was wir bisher ausgeschlossen haben – schmerzhafte und traumatische Erlebnisse. Denn diese sind für die betroffenen Menschen natürlich in der Regel ein sehr großer Ballast. Was diese Erlebnisse so schlimm macht, ist dabei meiner Auffassung nach, dass man sie in dem Moment unmöglich richtig verarbeiten kann. Und dann lande ich wieder bei dem Konzept der emotionalen Verletzung, um eine Erklärung zu finden, was da passiert. Im Kindesalter sind wir noch nicht in der Lage, etwas, das uns angetan wird, als falsch zu verurteilen. Ganz egal, wie grausam es ist. Deswegen übernehmen wir in diesem Moment selbst die Schuld dafür. Das kann auch in höherem Alter noch der Fall sein, aber im Kindesalter ist es unumgänglich. Ich möchte Dich an dieser Stelle an die Metapher mit dem Schuppenpanzer von der vorigen Etappe erinnern. Es wird in diesem Moment eine Schuppe mit der Aussage infiziert, dass das, was uns passiert, gerechtfertigt ist. Das gilt traurigerweise selbst bei schlimmsten Misshandlungen. Ein Teil von uns trägt fortan die Aussage in sich, dass es okay sei, dass uns das angetan wurde, weil wir so sind, wie wir sind. Diesen Ballast kann man nur loswerden, wenn man das Erlebte irgendwann erneut und diesmal richtig verarbeitet. Das bedeutet für mich, den Punkt zu erreichen, diese Situation angucken zu können und dabei nicht nur denken sondern fühlen zu können: „Nicht ich bin nicht okay, sondern das, was da passiert ist, ist nicht okay.“ Je nachdem, wie schlimm das Erlebte war und wie tief die emotionale Verletzung, kann dies extrem schwierig und oft sogar nur mit Hilfe anderer Menschen möglich sein. Und es ist etwas, das sehr wahrscheinlich nicht durch Worte allein erreicht werden kann. Deswegen kann ich Dich nur ermutigen, Dir für Dich geeignete Formen der Unterstützung zu suchen, wenn Du selbst von traumatischen Erlebnissen betroffen warst, die Dich in Deiner Gegenwart belasten. Denn Du bist nicht schuld an dem, was Dir angetan wurde und Du hast verdient, dass es nicht den kleinsten Teil in Dir gibt, der dies behauptet.
Machen wir nun einen Sprung von der Vergangenheit direkt in die Zukunft. Man kann sagen, dass wir Menschen einen Teil unseres Lebens in der Zukunft leben. Manche mehr, manche weniger. Wir machen Pläne für unser Leben. Wir sammeln und behalten Dinge, auch wenn wir sie im Hier und Jetzt nicht benötigen, weil wir denken, dass wir sie vielleicht irgendwann mal brauchen könnten. Und wir verbringen viel Zeit mit Handlungen, von denen wir uns etwas für unsere Zukunft versprechen. All dies ist erst einmal sehr gut und richtig. Denn natürlich werden in der Gegenwart die Grundsteine für eine glückliche Zukunft gelegt. Jedoch begünstigen diverse Faktoren, dass wir uns regelrecht in der Zukunft verlieren können. Dass wir im permanenten Planen und Handeln für morgen den Blick auf das Heute vergessen – vergessen, einfach mal wahrzunehmen, wie zufrieden wir in diesem Moment sind.
Ein Faktor ist die Angst. Die Zukunft hat von Natur aus etwas Bedrohliches, da wir nicht wissen, was uns erwartet und nicht selbst kontrollieren können, was passieren wird. Je weiter man in die Zukunft blickt, desto unsicherer ist, welche Lebensbedingungen man dort vorfindet. Wir versuchen, die Angst zu beruhigen, indem wir uns bemühen, eine Absicherung aufzubauen und uns auf alle möglichen Szenarien vorzubereiten. Jedoch ist die Zahl möglicher Szenarien unendlich. Wir können also nie den Punkt erreichen, auf alles vorbereitet zu sein. Deswegen wird, solange wir nicht die Zukunftsangst an sich lindern können, diese immer weiter Einsatz von uns einfordern.
Das Gefährliche bei jeder Form von Angst ist, dass sie uns so sehr belasten kann, dass sie uns zu irrationalem Verhalten treibt. Ich nenne Dir zwei Beispiele von mir. Vielleicht findest Du Dich ja teilweise darin wieder.
Da ist ein Mensch, den man gerne kennenlernen würde. Aus Angst vor einer Ablehnung spricht man ihn jedoch nie an. So beraubt man sich aber gleichzeitig jeglicher Chance, ihn kennenzulernen.
Man wünscht sich etwas. Aus Angst, dass jemand den Wunsch komisch finden könnte, bringt man ihn jedoch nie zum Ausdruck. So wird der Wunsch immer unerfüllt bleiben.
Beide Beispiele haben gemeinsam, dass man sich durch das Verhalten bereits effektiv in genau den Zustand begibt, vor dem man Angst hat. Und damit ergibt entweder das Verhalten oder aber die Angst selbst keinen Sinn. Übertragen auf unser eigentliches Thema lautet das Problem wie folgt: Wenn wir aus der Angst heraus, irgendwann in der Zukunft nicht zufrieden leben zu können, in der Gegenwart auf alles Mögliche verzichten, uns selbst nichts erlauben und die gegenwärtigen Bedürfnisse und Wünsche immer hinten anstellen, dann leben wir wahrscheinlich die ganze Zeit unzufrieden.
Wie tut man nun also etwas gegen diese Angst?
Bevor ich dir zeigen kann, wie ich es geschafft habe, sie bei mir zu lindern, müssen wir uns noch einen zweiten Faktor anschauen, der dafür sorgen kann, dass wir die Gegenwart aus den Augen verlieren. Dieser zweite Faktor ist unsere Planung des eigenen Lebens. Es ist ein ganz normaler Vorgang. Wir wollen so zufrieden wie möglich leben und machen Pläne, wie wir das schaffen. Und dass wir diese Pläne machen, ist gar nicht das Problem. Das halte ich für sehr gut und richtig. Das Problem liegt darin, wie man mit diesen Plänen umgeht. Wir neigen dazu, an Plänen sehr lange festzuhalten. Einerseits aufgrund des Einsatzes, den wir bereits für sie geleistet haben. Je mehr wir bereits für einen Plan gegeben haben, desto stärker wird das Gefühl, dass alles umsonst gewesen wäre, wenn man es jetzt nicht zu Ende bringt. Außerdem geben die Pläne einem oft einen gewissen Halt. Wenn wir Unzufriedenheit spüren, lenken wir unsere Gedanken auf den Plan und sagen uns, dass es uns dadurch irgendwann besser gehen wird.
Wann immer man einen Plan für das eigene Leben macht, hat man es jedoch mit zwei Schwierigkeiten zu tun. Die eine ist die bereits angesprochene Ungewissheit über die zukünftigen Umstände. Die andere ist etwas, das auf den ersten Etappen dieser Reise schon Thema war. Das eigene Bewusstsein und Denken ist immer durch von außen aufgenommene Bewertungsmuster beeinflusst. Wir wissen daher in der Regel gar nicht genau, was für unsere Zufriedenheit wie wichtig ist. Folglich sind die Pläne, die wir machen, auch beeinflusst durch von außen aufgenommene Bewertungsmuster und dadurch für uns nicht immer zielführend. Pläne zu machen, ist dennoch richtig und unumgänglich. Aber sich zu sehr an sie zu klammern oder sich gar ihnen zu unterwerfen, kann große Probleme verursachen. Das frühere Ich, das einen Plan für uns gemacht hat, hat dies nach bestem Wissen und Gewissen getan. Doch es hatte weniger Erfahrungen als unser heutiges Ich und es wusste nicht, wie sich Lebensumstände verändern.
Wir sollten daher ständig überprüfen, ob die Pläne, nach denen wir leben, überhaupt noch passend sind. Und diese Prüfung kann nur in der Gegenwart passieren. Womit wir den Punkt dieser Tour erreicht haben, an dem alles zusammenläuft. Es ergibt keinen Sinn, in die Vergangenheit zu blicken und unser früheres Ich dafür verantwortlich zu machen, wenn es uns heute nicht gut geht. Doch eben so wenig ergibt es Sinn, unsere Zufriedenheit mit blindem Vertrauen in die Pläne, die unser früheres Ich gemacht hat, in der Zukunft zu suchen.
Wie fühle ich mich genau jetzt?
Diese Frage sollten wir uns so oft wie möglich beantworten. Je häufiger wir das tun, desto differenzierter können wir ermitteln, welche Faktoren unsere Gefühlslage positiv beeinflussen und welche negativ. Wir lernen uns selbst kennen und verstehen, was wie bedeutsam ist, damit wir glücklich leben können. Dieses Wissen kann uns niemand jemals wieder wegnehmen und wir können es nutzen, um bestmöglich auf Veränderungen zu reagieren.
Das Problem, das wir jedoch sowohl beim Blick in die Zukunft als auch auf die Vergangenheit haben, ist, dass wir keinen Zugang zu tatsächlichen Emotionen haben. Wenn wir in die Zukunft blicken, dann können wir nur vermuten, wie wir uns fühlen werden. Wenn wir auf die Vergangenheit blicken, sind es Erinnerungen, wie wir uns gefühlt haben, die mit der Zeit verblasst sind. Doch wie auf den ersten beiden Etappen dieser Reise bereits thematisiert, brauchen wir die Emotionen, um die Aussagen, die von außen auf uns einprasseln, zu filtern und unsere individuellen Antworten zu finden, was für uns für ein zufriedenes Leben wie bedeutsam ist. Je häufiger wir uns ganz bewusst mit den momentanen Emotionen auseinandersetzen, desto detaillierter können wir uns selbst entschlüsseln. Und das ist meiner Ansicht nach die bestmögliche Vorbereitung auf die Zukunft, die wir machen können.
Wie sagt man so schön: Leben ist das, was passiert, während man Pläne macht.
Es werden immer unvorhergesehene Dinge passieren. Doch je besser wir uns selbst kennen, desto besser können wir darauf reagieren und immer wieder die für uns bestmögliche Entscheidung treffen. Es ist nicht einfach. Emotionen können schmerzhaft sein und es ist immer verlockend, den Blick dann einfach in die Zukunft und auf die eigenen Pläne zu lenken, um dem Schmerz zu entfliehen. Doch gerade die schmerzhaften Emotionen müssen gehört werden, denn manchmal sind die Pläne und die Ziele, die man gerade verfolgt, der Grund für den Schmerz. So war es zumindest immer wieder bei mir. Und ich möchte an dieser Stelle noch einmal wiederholen, was ich schon auf der vorigen Etappe über meine Erfahrung mit emotionalem Schmerz geschrieben habe: Wenn man den emotionalen Schmerz wirklich an sich heranlässt und zuhört, was er einem sagt, dann hört er auf. Ganz genau so, wie wenn man vor dem Schmerz flieht. Der Schmerz kommt in beiden Fällen zurück, solange die Ursache nicht beseitigt ist. Aber wenn man zuhört, statt zu fliehen, dann kann man eine Antwort finden, wie die Ursache beseitigt oder zumindest abgeschwächt werden kann.
So habe ich für mich drei Dinge gefunden, die meine Angst vor der Zukunft lindern. Dass ich gelernt habe, besser auf meine Emotionen zu hören, sorgt dafür, dass ich mich heute sehr viel besser kenne, als vor einigen Jahren. Das gibt mir Vertrauen, dass ich in schwierigen Situationen die richtigen Entscheidungen für mich treffen kann. Außerdem habe ich schlichtweg etwas weniger Angst davor, dass es mir schlecht geht, weil ich im emotionalen Schmerz immer wertvolle Antworten gefunden habe, die mich mir selbst nähergebracht und mir neue Wege aufgezeigt haben, durch die es mir letztendlich besser ging, als jemals zuvor. Und das Dritte: Ich achte heute mehr darauf, wie es mir gerade geht und lebe nach dem Grundsatz: „In der Zukunft weiß ich nicht, wie die Voraussetzungen sind, um zufrieden zu leben. Aber die Zufriedenheit, die ich jetzt gerade erlebe, kann mir niemand mehr wegnehmen. Und sie gibt mir Energie. Diese Energie kann ich für schwierigere Zeiten sammeln.“ Kurz gesagt: Für mich hat schlichtweg die Frage „Wie geht es mir heute?“ gegenüber der Frage „Wie geht es mir morgen?“ in meinem Denken und Handeln erheblich an Bedeutung gewonnen.
Damit sind wir am Ende dieser Etappe angelangt. Ich hoffe, Du konntest in meinen Worten hilfreiche Anregungen finden und ich würde mich freuen, Dich auch auf kommenden Etappen der Reise zum Ich wieder begrüßen zu dürfen.
