
Die Reise zum Ich
2. Etappe: Die Sprache des Ichs
Herzlich willkommen zur zweiten Etappe der Reise zum Ich. Auf dieser werden wir etwas erkunden, über das ich die ersten 20 Jahre meines Lebens nie wirklich bewusst nachgedacht habe. Seit ich durch meine psychisch schwierigsten Jahre gegangen bin, ist es für mich jedoch zum bedeutendsten Thema geworden, mit dem ich mich gedanklich auseinandersetze. Worum es geht?
Emotionen
Ich habe am Ende der ersten Etappe schon von Emotionen geschrieben. Habe geschrieben, dass ich gelernt habe, auf meine Emotionen zu hören. Auf dieser Etappe werden wir uns nun genauer anschauen, was das bedeutet und was für mich dahinter steckt. Starten möchte ich mit einer Erklärung. Ich möchte Dir erklären, was das für mich überhaupt ist, das „Ich“. Vielleicht hast Du Dich bereits gefragt, wie ich zu dieser Formulierung „Reise zum Ich“ komme. Warum ist das Ich etwas, das man erst entdecken muss? In den folgenden Zeilen, werde ich versuchen, diese Perspektive ein wenig deutlicher zu machen. Dazu möchte ich Dir vorab eine Frage stellen. Handelst, denkst und redest Du zu jedem Zeitpunkt genau so, wie Du es möchtest? Es würde mich sehr wundern, wenn Du diese Frage mit einem „Ja“ beantworten könntest. Für mich lautet die Antwort auf jeden Fall klar „nein“. Das bringt uns zu einer ersten sehr einfachen Erklärung, was ich als das Ich eines Menschen betrachte. Das Ich ist für mich das, was zu jeder Zeit verkörpert, was ein Mensch tatsächlich will. Und es ist in meiner Überzeugung das, was einen Menschen charakterisiert und ausmacht.
Wenn ich an Dich denke, dann bist Du für mich nicht das, was ich sehen und hören könnte, wenn ich Dich treffen würde. Du bist für mich nicht das, was Du tust oder sagst. Du bist für mich das, was Du tun und sagen würdest, wenn Du wirklich und vollkommen frei wärst.
Aber Du bist nicht frei. Ich bin es auch nicht. Kein Mensch ist es. Und nun schauen wir uns an, warum das so ist. Oder zumindest warum ich überzeugt bin, dass es so ist.
Der Grund ist, dass wir alle einzigartig sind. Trotzdem ist die Einzigartigkeit der Menschen nicht das Problem. Im Gegenteil. Ich halte es für die größte Stärke von uns Menschen, dass wir alle unterschiedlich sind. Denn je größer das Spektrum an verschiedenen Eigenschaften ist, das eine menschliche Gemeinschaft in sich vereint, desto größer ist auch das Spektrum an unterschiedlichen Aufgaben und Herausforderungen, das sie bewältigen kann. Aber natürlich müssen für das Zusammenleben in einer solchen Gemeinschaft immer Kompromisse gefunden werden. Regeln, die die Freiheit des Einzelnen so weit einschränken, wie es notwendig ist, um ein Maximum an Freiheit für alle zu erzielen. Zumindest wäre es so ideal. In der Praxis ist es ziemlich schwierig die optimalen Regeln zu finden und ich bin überzeugt, in unserer Gesellschaft gibt es da noch viel Luft nach oben. Aber das ist ein anderes Thema. Auf jeden Fall ist das der Preis, den eine Gemeinschaft für den Vorteil zahlt, die individuellen Stärken ihrer Mitglieder vereinen zu können.
Ich habe gerade einen neuen Aspekt eingebracht. Die Einzigartigkeit der Menschen. Doch was ist das überhaupt? Wie drückt sie sich aus?
Da haben wir natürlich die äußere Erscheinung als offensichtlichen Aspekt. Keine zwei Menschen sehen exakt gleich aus und sprechen mit der gleichen Stimme. Aber es gibt noch sehr viel mehr. Zum Beispiel die Eigenschaften, mit denen ein Mensch ausgestattet ist. Schon wesentlich komplexer. Denn jeder Mensch kann die verschiedensten Fähigkeiten erlernen. Doch verschiedene Menschen benötigen unterschiedlich viel Aufwand, um dieselbe Fähigkeit gleich gut zu beherrschen. Es muss also angeborene Unterschiede geben, die dem zugrunde liegen. Naturgegebene Eigenschaften.
Und dann ist da noch ein Aspekt, in dem wir die Einzigartigkeit der Menschen finden. Und dieser ist in meinen Augen der bedeutendste. Es sind die Emotionen. Jeder Mensch fühlt einzigartig. Zwei Menschen können genau dasselbe erleben, aber ihre Emotionen werden dennoch unterschiedlich sein. Ich finde das unglaublich faszinierend. In den Emotionen finden wir eine individuelle Reaktion eines Menschen auf alles. Unsere Emotionen geben uns zu jedem Zeitpunkt individuelle Antworten. Doch diese zu verstehen, das ist uns nicht von Geburt an gegeben. Wir müssen es lernen. Und das ist aus meiner heutigen Perspektive und mit Blick auf meinen persönlichen Lebensweg die größte Herausforderung im Leben eines jeden Menschen und der Schlüssel zu einem möglichst zufriedenen Leben.
Und nach diesen einleitenden Worten möchte ich Dich nun mitnehmen und Dir zeigen, welche Erklärungen ich für die komplexen Zusammenhänge rund um das Thema „Emotionen“ für mich gefunden habe. Dazu müssen wir am Beginn des Lebens eines Menschen starten. Ich bin überzeugt, dass Emotionen von Beginn des Lebens an da sind und schon die spontanen Reaktionen eines Babys durch emotionale Regungen gesteuert werden. Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Denken erst mit der Zeit. Zu Beginn des Lebens fühlen wir, aber wir besitzen noch keine Fähigkeit, um aktiv zu verarbeiten, was wir da fühlen. Zudem besitzen wir natürlich ebenso noch keine Fähigkeit, unsere Emotionen deutlich nach außen zu kommunizieren. Wir weinen, wenn es uns schlecht geht und uns irgendetwas fehlt. Doch wir können nicht vermitteln, was es ist. Gleichzeitig sind wir vollkommen abhängig von der Außenwelt. Jegliches Bedürfnis und jeder Wunsch kann uns nur von anderen Menschen erfüllt werden.
Dies ist ein Nährboden, der unvermeidlich Probleme hervorbringt. Denn natürlich wird niemals jedes Bedürfnis erfüllt werden. Selbst die liebevollsten Eltern können das nicht leisten. Nicht, weil sie es nicht wollen. Sondern, weil sie die Bedürfnisse ihres eigenen Kindes niemals vollständig kennen und verstehen können. Schließlich kommen wir alle als individuelle Wesen in diese Welt, deren Bedürfnisse und Wünsche keinem Menschen auf der Welt exakt gleichen. So kam für uns alle zwangsläufig irgendwann die erste Situation, in der wir mit unseren Emotionen und Bedürfnissen Ablehnung erfahren haben. Und es ist dabei sehr wahrscheinlich, dass diese Ablehnung von unseren Eltern oder anderen Menschen gar nicht beabsichtigt war. Aber genau das konnten wir eben unmöglich verstehen, denn der Verstand und das Denken war noch nicht da. Wir erlebten zum ersten Mal, dass die Welt, in die wir gekommen sind, nicht immer perfekt für uns funktioniert. Und das war in diesem Moment der größte Schmerz, den wir je gespürt haben.
Schmerz löst immer einen natürlichen Reflex aus, diesem zu entkommen. Und wenn sich der Auslöser der schmerzhaften Emotion unserem Einfluss entzieht, weil wir vollkommen abhängig sind, richtet sich dieser Reflex gegen die Emotion selbst. Meine Erklärung ist, dass dann die emotionale Verbindung zu dem Teil unseres Bewusstseins, der die schmerzhafte Emotion in sich trägt, abgespalten wird. Und dadurch hört der Schmerz tatsächlich in diesem Moment auf, aber das hat einen hohen Preis. Eine emotionale Verletzung entsteht, die denselben Schmerz immer wieder hervorruft.
Ja, ich weiß. Das war jetzt gerade eine sehr abstrakte Erläuterung. Ich versuche daher, mit einer Verbildlichung nochmal deutlicher zu erklären, wie ich das meine:
Stell Dir vor, Du hättest einen Schuppenpanzer. Dieser Schuppenpanzer beschützt Dein ureigenes Wesen mit all seinen Bedürfnissen und Wünschen – Dein Ich. Und stell Dir vor, die Emotionen sind das Blut, das durch Deinen Körper fließt und jede Zelle bis in die Schuppen mit Nährstoffen versorgt. Dann wird eine der Schuppen des Panzers beschädigt, weil etwas geschieht, das nicht Deinen Bedürfnissen und Wünschen entspricht – ein Signal, Du seist nicht richtig so, wie Du bist. Die Schuppe schmerzt. Um dem Schmerz zu entgehen, wird die emotionale Verbindung zu der Schuppe gekappt. Sie ist fortan wie ein Zahn, dessen Nerv tot ist. Die Emotionen durchfließen sie nicht mehr. Der Schmerz wird nicht mehr übertragen, aber ebenso die Schutzfunktion der Schuppe nicht mehr intakt gehalten. Sie ist nun ein Einfallstor für das, was von außen auf sie einwirkt. Sie wird durch das empfangene Signal infiziert. Die infizierte Schuppe ist von den Emotionen abgeschnitten, aber Du trägst sie weiter in Deinem Panzer. Einen Teil, der nun fortwährend die Aussage in sich trägt, dass Du nicht richtig bist, so wie Du bist.
Natürlich erleben wir nicht nur eine einzige solche Situation, sondern unzählige unser gesamtes Leben lang. So wird unser Panzer immer weiter beschädigt. Immer mehr Schuppen werden infiziert mit von außen aufgenommenen Bewertungen und Urteilen. Und wir tragen diese ständig mit uns herum. So fließen sie auch mit ein, wenn wir allmählich erlernen, zu denken und eigenmächtig zu handeln. Und daher ist unser Denken und Handeln von Anfang an nicht frei. Es ist immer zu einem gewissen Anteil durch die äußeren Bewertungen, die wir während unseres bisherigen Lebens aufgenommen haben, geprägt. Und es ist niemals klar, wie groß dieser Anteil gerade ist.
Eine ganz wichtige Schlussfolgerung an dieser Stelle: Es ist sehr problematisch, einen Menschen für irgendein Verhalten zu verurteilen. Denn erst wenn die Fähigkeit, zu Denken und sich selbst zu hinterfragen, erlernt ist, ist es überhaupt erst möglich, die eben beschriebenen Prozesse zu beeinflussen. Und je nachdem, was ein Mensch erlebt und für Verhaltensmuster erlernt hat, kann dies extrem schwierig sein. Wenn wir nur das Verhalten eines Menschen in einem Moment sehen, wissen wir nichts. Wir wissen nicht, in welchem Maße dieser Mensch da gerade entsprechend seines tatsächlichen Willens und Wesens, seines Ichs, handelt. Wir wissen nicht, was dieser Mensch erlebt hat, durch das sein Handeln beeinflusst wird. Wir wissen nicht, welche traumatischen Erfahrungen dieser Mensch womöglich gemacht hat.
Verurteile niemals einen anderen Menschen, denn Du kennst nie die ganze Wahrheit.
Das ist nichts, was ich Dir vorschreiben möchte. Es ist lediglich ein Rat. Meine Welt ist sehr viel schöner geworden, seit ich sie so betrachte. Denn ich kann das Leid, das Menschen einander zufügen, nun erklären, ohne annehmen zu müssen, dass Menschen von Natur aus „böse“ sind. Sondern für mich erscheint es wesentlich wahrscheinlicher, dass viele „böse“ Handlungen von den handelnden Menschen eigentlich nicht natürlich gewollt sind. Dass die Menschen, die so handeln, nur selbst „Böses“ erfahren haben und gemäß des oben beschriebenen Prozesses in diesen Momenten ein Teil in ihnen erzeugt wurde, der das „böse“ Verhalten rechtfertigt und gutheißt. Und dadurch verringert sich zwar nicht das Leid in diesem Moment. Aber es offenbaren sich Auswege, Hass und Feindseligkeit in der Welt abzubauen. Wenn mehr Menschen zurück zu sich selbst finden und es uns gelingt eine Welt aufzubauen, in der sich die Menschen gar nicht erst so sehr selbst verlieren, sollten wir das erreichen können.
Damit kommen wir zum wichtigsten Teil der heutigen Etappe. Wie findet man zurück zu sich selbst? Wie findet man heraus, was man wirklich will?
Dazu wieder ein persönlicher Erfahrungsbericht:
Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass die psychische Krise, die letztlich der Grund ist, weshalb ich diesen Text schreibe, allmählich Gestalt angenommen hat. Heute weiß ich, dass sie sich schon über viele Jahre zuvor kontinuierlich, aber noch im Hintergrund, aufgebaut hat. Auch ich hatte das Verhaltensmuster entwickelt, schmerzhafte Emotionen wegzuschieben, das, wie beschrieben, im Kindesalter als natürlicher Reflex beginnt. Ich bin heute überzeugt, dass jeder Mensch dieses Verhaltensmuster erlernt. Es ist aber natürlich unterschiedlich, wie schmerzhaft die Emotionen sind, die Menschen erleben. Und ebenso ist unterschiedlich, welche Mechanismen Menschen entwickeln, um vor emotionalem Schmerz zu fliehen. Manchmal reicht es schon, die eigenen Gedanken in eine bestimmte Richtung zu lenken. Viele Menschen entwickeln bestimmte Rituale und Gewohnheiten. Filme oder Videospiele laden ein, sich abzulenken und in andere Welten zu fliehen. Und natürlich müssen an dieser Stelle auch Alkohol und andere Drogen genannt werden. Es gibt viele Möglichkeiten, vor Emotionen zu fliehen.
Bei mir war es ein bunter Mix. Gedankenfantasien, Sport, Computerspiele, Filme und Serien. Ich habe eben geschrieben, dass die psychische Krise allmählich Gestalt angenommen hat. Damit meine ich, dass ich da gemerkt habe, dass es mir nicht gut geht. Lange war das nicht der Fall. Und die Erklärung dafür ist relativ einfach. Bis dahin waren der emotionale Schmerz und meine Mechanismen, um vor ihm zu fliehen, im Gleichgewicht. Doch dann passierten zwei Dinge parallel. Zum einen verlor ein Computerspiel, das für mich zwei Jahre lang Ablenkung vom Alltag und dem, was mit fehlte, gewesen war, für mich zunehmend an Reiz. Zum anderen habe ich in den Jahren sehr intensiv Langstreckenlauf betrieben. Das regelmäßige Unterbieten meiner eigenen Bestzeiten war ebenfalls etwas, wodurch ich mir immer wieder ein kurzzeitiges Glücksgefühl verschaffen konnte. Doch in dieser Zeit hatte ich eine Formkrise, hing weit hinter meinen Bestzeiten hinterher und konnte mir dieses Glücksgefühl nicht mehr verschaffen. Es gelang mir nicht mehr so zuverlässig, schmerzhafte Emotionen wegzuschieben. Ich spürte immer stärker, wie unzufrieden ich war und wie viel, das ich mir eigentlich wünschte, mir fehlte.
Heute bin ich unendlich dankbar für diese Zeit. Denn ich weiß: Klar hat mein Leben irgendwie sehr lange so funktioniert, ohne dass ich gespürt habe, dass ich unzufrieden bin. Aber ich weiß auch, dass es mir Energie geraubt und dafür gesorgt hat, dass ich mich nicht entfalten konnte. Dass ich nicht zeigen konnte, wie ich wirklich bin. Es war wichtig, dass meine Fluchtmechanismen weggebrochen sind, damit die Emotionen an mich heran konnten. Über eine Zeit von mehreren Monaten versuchte ich weiter immer verzweifelter und zugleich erfolgloser, gegen den emotionalen Schmerz anzukämpfen, der immer ungebremster auf mich einwirkte. Und dann kam der Moment, den ich schon auf der ersten Etappe dieser Reise beschrieben habe. Ein Spaziergang mit dem Vorsatz, nicht mehr vor dem Schmerz zu fliehen – ihn einfach zuzulassen. Ich kann Dir nicht erklären, wie ich das geschafft habe, aber ich kann Dir erzählen, was passiert ist: Der Schmerz wurde immer stärker, doch genau in dem Moment, als ich ihn nicht mehr aushalten konnte, war er weg. Und stattdessen waren neue Gedanken da und ein neues Bewusstsein, was ich brauche, um glücklich zu sein. Ich habe mich in diesem Moment etwas besser selbst verstanden. Ich habe einen solchen Moment dann drei Jahre später ein weiteres Mal erlebt. In diesen drei Jahren hatte ich bereits viele Schritte gemacht, die mich mir selbst und einem für mich richtigen und zufriedenen Leben näher gebracht haben. Doch es war noch längst nicht alles. Denn dieser zweite einschneidende Moment war es, in dem mir klar wurde, dass ich mich den Themen Selbstfindung und mentale Gesundheit noch stärker widmen und meine eigenen Erfahrungen und deren gedankliche Verarbeitung für andere Menschen sichtbar machen möchte. Es ist die faszinierendste Erfahrung meines Lebens, wie von einem Moment auf den anderen aus einem nahezu unerträglichen Schmerz ein unbeschreibliches Glücksgefühl wird, weil man plötzlich etwas verstanden hat und einen neuen Weg sieht. Dieses Gefühl und diese Erfahrung will ich weiter tragen.
Und auf dieser Erfahrung basieren auch die folgenden Sätze: Ich bin überzeugt, dass die Emotionen zu jeder Zeit ausdrücken, was für uns gut und richtig ist. Wir sehen in emotionalem Schmerz eine Bedrohung und versuchen ihn zu unterdrücken. Doch der Schmerz ist eine wichtige Botschaft unseres Ichs, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Und unser Ich verlangt nicht einmal, dass wir das sofort in Ordnung bringen. Manchmal ist das auch gar nicht möglich. Unser Ich will nur gehört werden. Will nur, dass die Botschaft ankommt in unserem Bewusstsein und Denken. Und wenn sie das tut, wenn wir dies zulassen, dann hört der Schmerz augenblicklich auf und wir lernen etwas über uns. Emotionen zeigen, was wir wirklich wollen. Emotionen sind die Sprache unseres Ichs.
Und ich kann nun die Metapher vom Schuppenpanzer vervollständigen. Was passiert, wenn wir eine angegriffene Schuppe nicht abstoßen, wenn wir nicht vor emotionalem Schmerz fliehen? Die Emotionen versorgen die Schuppe weiter mit Energie, um dem Angriff zu widerstehen. In den Emotionen steckt die Klarheit, dass nichts und niemand das Recht hat, unsere angeborenen Eigenschaften, Bedürfnisse und Wünsche als falsch zu bezeichnen. So kann die angegriffene Schuppe vor Verletzung geschützt werden, wenn wir die Emotionen fließen lassen. Dadurch verarbeiten wir das aufgenommene Signal und finden unsere individuelle Perspektive darauf. Zum Beispiel erkennen wir, ob wir einer Bewertung zustimmen. Doch wenn wir die Schuppe abstoßen, nimmt sie die Bewertung ungehindert auf und sie fließt fortan in unser Denken ein.
Ich kann Dich daher nur von ganzem Herzen ermutigen, Wege zu suchen, Deine Emotionen an Dich heranzulassen. Ich kann Dir nicht sagen, wie es geht. Schließlich sind wir beide verschieden und wahrscheinlich funktioniert es für Dich nicht genauso wie für mich. Und zu meiner Realität gehört auch, dass ich immer wieder feststellen muss, dass es immer wieder aufs neue schwierig ist, das selbst zu schaffen. Ich habe einen guten Weg der Aufarbeitung geschafft und bin dadurch ein deutlich zufriedenerer Mensch geworden, als ich einst war. Aber immer wieder komme ich an einen Punkt, an dem ich realisiere, dass da noch weitere Aspekte sind, die ich noch nicht gelöst habe. Dann muss ich wieder feststellen, dass ein Teil meines Lebenskonstrukts immer noch aus Fluchtmechanismen bestanden hat, die weiteren Schmerz vor mir verborgen haben. Manchmal dauert es Jahre bis durch irgendeine Situation endlich wieder ein neuer Aspekt aufgewühlt wird. Es braucht immer irgendeinen Auslöser, der das bisherige Lebenskonstrukt in sich zusammenfallen lässt, damit der Schmerz überhaupt zu einem durchkommt. Und dann hat man wieder eine Chance einen weiteren Schritt zu machen und ein Lebenskonstrukt für sich zu finden, das mehr echte Zufriedenheit bereithält und damit weniger Notwendigkeit für Flucht.
Es ist eine sehr große Herausforderung, an den eigenen emotionalen Schmerz richtig heranzukommen und an den Punkt zu gelangen, darin wertvolle Antworten und Schlüsse zu finden. Ich möchte Dir zum Abschluss dieser Etappe daher noch einen weiteren Vergleich mit auf den Weg geben, der für mich immer wieder sehr hilfreich ist, wenn ich wieder an einen weiteren Punkt komme, in dem Schmerz bei mir hochkommt.
Die Wasserstrudel-Analogie
Mir ist nach der Überwindung meiner ersten und schlimmsten psychischen Tiefphase etwas eingefallen, das ich im Alter von vielleicht 12 Jahren gelernt habe. Es war in einer Belehrung über Gefahren beim Schwimmen. Da gab es das Thema, wie man sich verhalten sollte, wenn man in einen Wasserstrudel gerät. Das reflexartige Verhalten so ziemlich jedes Menschen dürfte sein, zu versuchen, sich irgendwie über Wasser zu halten. Doch genau das sollte man laut Handlungsempfehlung nicht tun. Denn an der Oberfläche ist die Strömung so stark, dass man dem Strudel nicht entkommen kann. Man verliert daher lediglich Energie, wenn man dagegen ankämpft, bis man irgendwann entkräftet ist und keine Chance mehr hat. Die Empfehlung ist: Kräftig Luft holen und sich runter ziehen lassen. Im unteren Bereich ist die Strömung viel schwächer und man hat eine Chance den Strudel zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen.
Ich finde, das ist eine geradezu wunderbare Analogie dazu, wie man emotionalem Schmerz bis hin zu psychischen Krisen entkommen kann. Es bringt nichts gegen den emotionalen Schmerz anzukämpfen, da er immer wiederkommt, solange die Ursache nicht beseitigt ist. Es raubt lediglich sämtliche Energie, bis man nicht mehr gegen den Schmerz ankämpfen kann. Wenn man jedoch allen Mut zusammen nimmt und sich in den Schmerz hineinziehen lässt, dann offenbart sich ein Weg, um dem Strudel, dem Schmerz, der Krise, zu entkommen.
Damit sind wir am Ende der zweiten Etappe angekommen. Vielen Dank, dass Du mich begleitet hast. Und wenn Du magst: Bis bald auf Etappe Nr. 3!
