Mit Emotionalen Verletzungen leben lernen

Im vorherigen Text habe ich das Konzept der emotionalen Verletzung erläutert. Falls Du ihn noch nicht gelesen hast, bitte ich Dich dies zu tun, bevor Du den folgenden Text liest. Und falls Du es noch nicht gemacht hast: Schau Dir auch gerne mal die Rubrik „Schaufenster: Psychische Barrieren“ an. Dort findest Du eine wachsende Sammlung an Beispielen, wie emotionale Verletzungen wirken und was sie auslösen können.

Gemäß des beschriebenen Prozesses gehen wir davon aus, dass in jedem Menschen ein Bewusstseinsanteil ausgebildet wird, der äußere Aussagen und Wertungen aus emotional schmerzhaften Situationen übernommen hat. Wenn dieser Bewusstseinsanteil aktiviert wird, zum Beispiel durch vergleichbare Situationen, kann er unser Denken und Handeln beeinflussen. Die dann aufkommenden Gedanken und Handlungsempfehlungen entsprechen nicht mehr dem tatsächlichen Willen des Menschen, sondern sind geprägt durch die übernommenen Aussagen und Wertungen.

Es ist sehr unterschiedlich, was Menschen in ihrem Leben widerfährt und ebenso unterschiedlich sind auch Art und Schwere der emotionalen Verletzungen, die ein Mensch davonträgt. Was jedoch klar ist: Niemand ist völlig frei von emotionalen Verletzungen, da wir alle in irgendeiner Form Situationen der Ablehnung oder Zurückweisung unserer naturgegebenen Merkmale, Eigenschaften und Bedürfnisse erfahren. Dies geschieht unweigerlich und selbst dann, wenn niemand das eigentlich beabsichtigt.

Emotionale Verletzungen reproduzieren diese Ablehnung in unserem Denken und Handeln und können dadurch viel Leid erzeugen. Sie erzeugen es in uns selbst, da sie uns immer wieder die erfahrene Ablehnung durchleben lassen. Und sie können auch Leid und neue emotionale Verletzungen bei anderen Menschen auslösen. Denn wenn sich der verletzte Anteil unseres Bewusstseins auch bei unserem Handeln durchsetzt, dann begünstigt das genau die Handlungen und Verhaltensweisen, die uns einst selbst verletzt haben. Unser Verhalten spiegelt dann das, was uns selbst widerfahren ist.

Ein entscheidender Weg, um individuell und als Gemeinschaft zufriedener zu leben, ist daher, einen besseren Umgang mit emotionalen Verletzungen zu erlernen. Und dazu gibt es folgende zwei Schritte:

Schritt 1: Akzeptiere, dass es die emotionalen Verletzungen gibt.

Das klingt recht banal, aber es ist meiner Meinung nach der wichtigste Schritt. Allein mit diesem Schritt eröffnet sich eine völlig neue Perspektive auf die Welt und auf andere Menschen. Denn über die emotionale Verletzungen ergibt sich eine Möglichkeit, das Verhalten von Menschen zu erklären. Es ist nicht länger notwendig anzunehmen, dass jedes Verhalten auf einem freien Willen der Menschen basiert. So gilt auch für die Situationen, in denen Du oder ich Ablehnung und Zurückweisung empfunden haben, dass dies womöglich gar nichts mit uns zu tun hatte. Vielleicht konnten die andern Menschen aufgrund eigener Verletzungen einfach in den Situationen nicht anders handeln.

Es eröffnet sich zudem auch eine neue Perspektive auf Dich selbst. Denn Du kannst nichts für die emotionalen Verletzungen, die in Dir erzeugt wurden. Und folglich kannst Du auch nichts für das, was durch sie ausgelöst wird. Ab dem Moment, in dem Du im Blick auf Dich selbst unterscheidest zwischen Deinem wahren Ich und dem verletzten Bewusstseinsanteil, bieten sich Dir völlig neue Möglichkeiten. Denn den Schmerz, den dieser Teil auslöst, kannst Du nun mit dem Bewusstsein betrachten: „Das bin nicht ich, sondern lediglich ein Teil in mir.“ Und Du kannst mit dem Versuch beginnen, Dich dem Einfluss, den dieser Teil auf Dein Denken und Handeln nimmt, zu widersetzen. Schließlich ergibt sich aus dem Konzept der emotionalen Verletzung, dass der verletzte Bewusstseinsanteil für das Gegenteil dessen steht, was Du wirklich willst und für Dich richtig ist. Daraus folgt, dass es immer ratsam ist, die spontanen Gedanken und Handlungsratschläge, die Dir in den Kopf kommen, zu hinterfragen.


Schritt 2: Entschlüssele Deine emotionalen Verletzungen

Es gibt eine große Herausforderung bei der soeben beschriebenen Arbeit gegen den verletzten Bewusstseinsanteil: Uns ist nicht ohne weiteres bewusst, welche emotionalen Verletzungen wir in uns tragen und wie sie sich auswirken. So ist es schwierig zu erkennen, welche Gedanken und Handlungsratschläge überhaupt diesem Bewusstseinsanteil entstammen. Doch Du kannst es Stück für Stück herausfinden, wenn Du beginnst, Dich damit auseinanderzusetzen. Wenn Du Dir Zeit nimmst, Deine Reaktionen in schmerzhaften Situationen zu reflektieren, kannst Du erkennen, dass sie oft nicht zielführend waren, sondern alles eher schlimmer gemacht haben. Vielleicht fällt Dir auch auf, dass es eine widersprüchliche emotionale Reaktion gab, die sich in der Situation nicht durchsetzen konnte. Rückblickend erkennst Du jedoch, dass diese Reaktion besser für Dich gewesen wäre.

Aus diesem Reflexionsprozess kannst Du lernen, immer klarer zwischen Deinen Bewusstseinsanteilen zu unterscheiden. Du verstehst, in welchen Situationen der verletzte Bewusstseinsanteil aktiviert wird. Du lernst zuzuordnen, welche Gedanken und Handlungsratschläge dem verletzten Bewusstseinsanteil entstammen und daher nicht zielführend sind. Je besser Dir das gelingt, desto leichter wird es Dir fallen, diese Gedanken aktiv zu verneinen und bewusst nicht so zu handeln, wie es Dir in den Situationen zunächst durch den Kopf geht. Jedes Mal, wenn Dir das gelingt und Du die positive Erfahrung machst, dass es Dir damit tatsächlich besser geht, wird es leichter. Bei diesem Prozess kann es sehr helfen, der Entstehung der eigenen emotionalen Verletzungen auf den Grund zu gehen, in dem man sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt. Die Entschlüsselung der eigenen emotionalen Verletzungen ist viel Arbeit. Aber sie zahlt sich aus. Denn eine emotionale Verletzung, die Du entschlüsselt hast, kann keinen Schmerz und keine neue Verletzung mehr verursachen.

Ich verweise hier nochmal auf „Etappe 2: Die Sprache des Ichs“ der Rubrik „Die Reise zum Ich“. Dort wird der Prozess, mit den eigenen emotionalen Verletzungen leben zu lernen, nochmal detaillierter und anhand meiner eigenen Erfahrungen beschrieben.