
Die kleinen Bausteine
Die gefilterte Wahrnehmung
Wie nehmen wir die Welt wahr? Diese Frage scheint einfach zu beantworten zu sein: Wir sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken.
Aber so einfach ist es nicht. Denn das, was wir mit unseren Sinnen einfangen, sind lediglich Rohdaten. Zu einer bewussten Wahrnehmung werden sie jedoch erst durch eine Verarbeitung und Interpretation in unserem Gehirn. Und dieser Verarbeitungs- und Interpretationsprozess kann individuell sehr unterschiedlich sein. Denn jeder Mensch bildet im Laufe seiner persönlichen Entwicklung eine Art Filter aus.
Warum das so ist, lässt sich folgendermaßen erklären: Als bewusste Lebewesen stehen wir permanent vor der Frage, wie wir unser Leben führen sollen, wie wir handeln sollen, wie wir uns entscheiden sollen. Daher haben wir ein natürliches Bedürfnis nach einem stabilen Wertesystem, das uns jederzeit eine klare Antwort auf diese Frage liefert. Schon bevor wir uns bewusst damit auseinandersetzen können, versucht unser Gehirn aus allen Bewertungen, mit denen wir konfrontiert sind, ein solches Wertesystem zu entwickeln. Doch die schiere Vielfalt an Aussagen, die von klein auf auf uns einprasselt, ist voller Widersprüche. Was ist gut und was schlecht? Was ist richtig und was falsch? Was ist wie wertvoll? Was macht uns zufrieden? Es ist ein unmögliches Puzzle voller Teile, die nicht zusammenpassen.
Es muss also zwingend irgendetwas aussortiert werden, um zu klaren Werten zu gelangen. Aber es dauert, bis unsere kognitiven Fähigkeiten soweit entwickelt sind, dass wir dies bewusst tun und den Widersprüchen auf den Grund gehen können. Bis dahin sind wir nicht in der Lage mit diesen Widersprüchen umzugehen und so braucht es eine primitivere Methode. Und diese ist so simpel wie fatal: Aus frühen prägenden Erfahrungen entsteht ein erstes Bewertungsmuster und alle weiteren Wahrnehmungen werden so interpretiert, dass sie möglichst gut in dieses Bild passen – dass es scheinbar keine Widersprüche gibt.
Es ist deshalb so fatal, weil zu den frühen prägenden Erfahrungen jedes Menschen zwangsläufig auch solche dazu gehören, in denen die eigenen individuellen Bedürfnisse nicht beachtet oder nicht verstanden wurden. Und in solchen Situationen wird in jedem Menschen eine Selbstbewertung, ein Selbstbild, verankert, nicht richtig zu sein so wie man ist. Dieses negative Selbstbild ist umso stärker, je größer die Ablehnung ist, die man in bestimmten Situationen erfahren hat. Entsprechend des soeben erklärten Prozesses werden fortan Wahrnehmungen verstärkt so interpretiert, dass sie dieses negative Selbstbild immer wieder bestätigen. So entstehen Selbstzweifel, Versagensängste und ein schlechtes Selbstwertgefühl. Und diese Faktoren stellen für jeden Menschen ständige Hindernisse dar, den eigenen passenden Lebensweg zu finden und ein Leben in größtmöglicher Zufriedenheit zu führen.
Ich kann Dir daher nur ans Herz legen, Deiner persönlichen Entwicklung auf den Grund zu gehen. Wenn Du Dich damit auseinandersetzt, welche früheren Erfahrungen Dich geprägt haben, dann kannst Du verstehen, welche Wahrnehmungsfilter Du ausgebildet hast. Und indem Dir das gelingt, kannst Du neue Erfahrungen neutraler, bewusster und differenzierter interpretieren und damit Stück für Stück diese Filter korrigieren.
Ich selbst konnte so zum Beispiel irgendwann realisieren, dass ich jahrelang neutrale Signale anderer Menschen, wie zufällige Blicke, als Ablehnung interpretiert habe. Mehr zu dieser persönlichen Erfahrung, dass die gefilterte Wahrnehmung einen Teufelskreis erzeugt, der aber durchbrochen werden kann, findest Du in der Rubrik „Die Reise zum Ich“ auf „Etappe 1: Der Teufelskreis der Wahrnehmung“. Im folgenden Text dieser Rubrik wird zudem das Konzept der emotionalen Verletzung erläutert, das eine Erklärung liefert, wie Wahrnehmungsfilter und andere psychische Barrieren in uns entstehen und wirken.
